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Am Ende ist die Grabplatte auf dem Franziskaner-Friedhof am Jerusalemer Zionsberg mit einem Ring aus kleinen Steinen umgeben. Es sind Steine der Erinnerung, der Dankbarkeit, der Hoffnung. Schauspieler und Überlebende des Holocaust – Hand in Hand auf dem Friedhof vereint – haben die Steine am Grab von Oskar Schindler niedergelegt. Es ist zunächst eine Geste, wie sie auf jüdischen Friedhöfen zum Andenken an die Toten Brauch ist. Zugleich steht das Neben- und Miteinander von Darstellern und jenen Schindler-Juden, denen der Platz auf einer Liste das Leben rettete, für die Verschränkung von Wirklichkeit und Fiktion in Steven Spielbergs Welterfolg „Schindlers Liste“.
Wer den Holocaust auf die Kinoleinwand bringen will, geht ein Wagnis ein. Eine Dokumentation, wie sie Claude Lanzmann 1986 mit dem Zehn-Stunden-Opus „Shoah“ vorlegte, wirkt zwar durch Faktentreue, hat aber keine Massenwirkung. Ein Spielfilm dagegen ruft Kritiker auf den Plan, welche die Darstellung des NS-Rassenwahns von Fiktion und Unterhaltung möglichst freihalten wollen. Schon die Debatte um den US-Mehrteiler „Holocaust“, der 1979 ins deutsche Fernsehen kam und das Schicksal der fiktiven jüdischen Familie Weiß darstellte, drehte sich im Kern um die Frage: Schließen sich Auschwitz und Unterhaltung aus? Deutsche Historiker neigten zu einem Ja.
Steven Spielberg, als Regisseur des Schockers „Der weiße Hai“ und der Außerirdischen-Schnulze „ET“ auf den ersten Blick kaum der Richtige für einen so ernsthaften Stoff, hat mit „Schindlers Liste“ bewiesen, dass er beides kann: Erzählen und zeigen, wie es wirklich gewesen. Sein Oskar Schindler – der dem Iren Liam Neeson fast einen Oscar eingebracht hätte – ist ein Mensch in seinem Widerspruch: Lebemann, Liebhaber schöner Frauen und schneller Autos, Kriegsgewinnler mit goldenem NS-Parteiabzeichen – der so viele Juden wie kein anderer vor den Gaskammern gerettet hat.
Wer war dieser geheimnisvolle Grenzgänger Oskar Schindler, der – was der Film nicht zeigt – vor dem Krieg von den Tschechen fast als Nazi-Spion gehenkt worden wäre? War er ein Saulus, der sich zum Paulus wandelte? Spielberg hat im Film eine klare Antwort. Er gibt dem Deutschen ein Schlüssel-Erlebnis und lässt ihn von einer Anhöhe herab die blutige Räumung des Krakauer Ghettos verfolgen. Die Gewalt vor Augen, wird bei Schindler der Keim zur Idee gelegt, seine schützende Hand über jene zu halten, in denen er bisher nur billige Arbeitskräfte gesehen hatte.
Die Szene auf dem Hügel, der gar nicht existiert, hat es nie gegeben. Dennoch ist sie in einem tieferen Sinne wahr. Denn Schindler ging ganz auf Risiko. Im Herbst 1943 reiste er nach Budapest, um sich dort mit Leuten der Jewish Agency zu treffen und sie über das Morden in Polen aufzuklären.
Spielberg entscheidet sich indes für eine Dramaturgie, die auf eine klare Bildsprache setzt. Dazu gehört ein Koffer voller Banknoten. Den gibt Schindler dem Kommandanten des Arbeitslagers Krakau-Plaszow, Amon Göth (gespielt von Ralph Fiennes), um „seine“ Juden vor dem Abtransport nach Auschwitz zu bewahren. Dieses Geschenk fand genauso wenig statt wie das Siebzehn-und-vier-Spiel um Göths jüdisches Hausmädchen Helena Hirsch. Zeuge ist Mietek Pemper, heute 89 und damals als jüdischer Häftling persönlicher Stenograph von Amon Göth. Als solcher war Pemper mit der SS-Bürokratie vertraut, und die hätte es niemals zugelassen, dass ein subalterner Lagerkommandant über das Schicksal von mehr als 1000 Menschen entscheidet.
Vielmehr nahm das Projekt „Schindlers Liste“ den offiziellen Weg über das Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) der SS in Oranienburg bei Berlin, wie Pemper in seinem autobiografischen Bericht „Der Rettende Weg“ erklärt. Den Papierkrieg mit den NS-Stellen hätte Spielberg kaum schildern können. Daher gibt er seinem Schindler sichtbare Waffen zur Bestechung der SS-Chargen in die Hand: Französischen Cognac, Zigarren, Fresskörbe, Geldkoffer und schließlich sogar Diamanten.
Die Wirklichkeit des Holocaust ist zu komplex und verworren, um sie in einen Kinofilm zu packen. Daher kommt Mietek Pemper bei Spielberg nicht vor. Dabei spielte er als Mann an der wichtigsten Informationsquelle im Büro von Amon Göth eine viel größere Rolle für die Rettung der Schindler-Juden als Itzhak Stern, den Spielberg in sein Dreieck Schindler-Göth-Stern hineinkomponiert. Stern, gespielt vom legendären „Ghandi“-Darsteller Ben Kingsley, ist in Schindlers „Deutscher Emaillewaren-Fabrik“ (DEF) der kluge Geschäftsführer. In Wirklichkeit hat Stern nie dort gearbeitet. Er leitete im Lager Plaszow das Büro für Werkstatt-Abrechnungen. Mit Oskar Schindler war er seit 1940 – also schon in der Vor-Ghetto-Zeit – befreundet.
Spielberg wagt daher einen Kunstgriff: Er verschmilzt den Göth-Kenner Mietek Pemper und den Schindler-Vertrauten Itzhak Stern zu einer einzigen Person. Der Filmemacher erklärte Pemper später, warum er das tat: „Die komplexen Hintergründe“, berichtet Pemper von dem Gespräch, „eigneten sich wegen ihrer Vielschichtigkeit nicht für einen Spielfilm“. In der Tat: Allein das, was Pemper in den 15 Monaten seiner Arbeit für den unberechenbaren Mörder und Judenhasser Göth erlebte, wäre abendfüllend.
Auch ein Werk wie „Schindlers Liste“ bedeutet: raffen, verkürzen, weglassen, vereinfachen. Dem Zwang zur klaren Komposition fast völlig zum Opfer gefallen ist Schindlers Frau Emilie. Im Film taucht sie in Krakau auf und verlässt den notorischen Schürzenjäger Schindler wieder, was der Wahrheit nahekommt. Als ihr Mann aber im Oktober 1944 mit „seinen“ Juden in die neue Fabrik nach Brünnlitz umzieht, „kam sie ins Lager und half, wo sie nur konnte“, berichtet Pemper.
Zu kompliziert wäre es auch gewesen, die wahre Entstehung der legendären Liste zu zeigen. Denn eigentlich müsste der Film „Schindlers Listen“ heißen. „Es gab mehrere sich aufeinander beziehende Listen“, erzählt Mietek Pemper. Die berühmte 13 Seiten lange Liste wurde auch nicht – wie im Film – in einer heroischen Hauruck-Aktion von Schindler diktiert und von Stern getippt. Wer hätte auch 801 Namen, Häftlingsnummern, Geburtstage und Berufsbezeichnungen auswendig im Kopf? Die Liste entstand im Büro eines SS-Unteroffiziers, der in Plaszow den Arbeitseinsatz leitete. Pemper wirkte an ihr mit, aber auch andere Häftlinge saßen an der Schreibmaschine. Der Film suggeriert außerdem, Schindler habe alle Juden aus seiner „Emalia“ retten können. Das war nicht so. Im Sommer 1944 wurden laut Pemper „einige hundert“ in andere Lager gebracht. Die meisten kamen um.
Schindler war also nicht Herr der Liste. Er entschied zwar mit, doch wer zusätzlich aufs Papier kam (oder wieder gestrichen wurde), entzog sich seiner Kontrolle. Eine zwielichtige Rolle soll laut Pemper der Häftlingsschreiber Marcel Goldberg eingenommen haben. Im Film ist er ein opportunistischer Ghetto-Polizist, der von den anderen ausgelacht wird. Im Lager soll er hingegen verhasst gewesen sein, auch weil er seine Machtposition beim Erstellen der Liste rücksichtlos ausnutzte. „Vor allem Marcel Goldberg sorgte dafür, dass einige seiner Protektionskinder auf die Liste kamen“, erzählt Mietek Pemper.
Dennoch: Ohne Schindler hätte es nie eine Ausquartierung nach Brünnlitz und keine Liste gegeben. Der rettende Weg hat Engstellen und Kurven. Doch dass nur Oskar Schindler allein ihn geöffnet hat, steht fest. Er hat in der Dunkelheit das Streichholz angerissen, um jene Kerze zu entzünden, mit der Spielbergs Film beginnt.